Rote Socken im Grünen

Die Naturfreunde wollten einst in den Sozialismus wandern. Von Anfang an trugen sie den Zwiespalt in sich, gleichzeitig ein Verein für Hobbys und für gesellschaftliche Veränderung zu sein. Eine politische Vereinsgeschichte.

Text: Florian Burkhardt

Foto: NaturFreunde-Archiv

Verband: NaturFreunde Deutschlands


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Mit heiligem Ernst schnürt man in Deutschland und Österreich die Wanderschuhe. Andere Völker tanzen oder meditieren — Deutsche spüren der mystischen Einheit nach, wenn sie durch Wald, Hag und Feld wandern. Malerei und Dichtung der Romantik, die Eiche auf den Pfennigmünzen, der Berg- und Heimatfilm, Schullandheime, die Outdoorjacken in der Fußgängerzone — all das zeugt von dieser alten Sehnsucht. „Wanderlust“ schlüpfte als Fremdwort sogar in der englischen Sprache unter. Die Liebe zum Wandern und die Liebe zum Vereinswesen vereinigten sich Ende des 19. Jahrhunderts und es gründeten sich die ersten Wandervereine.

Freiheit durch Natur

Im April 1895 war in der Wiener Arbeiterzeitung, dem Zentralorgan der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, ein kleines Inserat zu lesen: „Achtung! Touristische Gruppe. Der Osterausflug findet Sonntag, den 14. April, statt.“ Treffpunkt um 7:30 Uhr war die Abfahrtshalle des Südbahnhofs, Erkennungszeichen die Arbeiterzeitung. 62 Leute kamen, fuhren mit dem Zug aufs Land und wanderten „unter fröhlichen und ernsten Arbeitergesängen“ zu einem anderen Bahnhof. Die Naturfreunde waren geboren. In dem Verein verbanden sich zwei Trends des späten 19. Jahrhunderts: die Arbeiterbewegung und die Lebensreform.

Die damalige Situation der Industriearbeiterinnen und -arbeiter lässt sich so zusammenfassen: Sie schufteten 16 Stunden lang in dreckigen Fabrikhallen, um dann in die überfüllten Löcher zurückzukehren, in denen sie mit ihren Familien hausten. Fast alle waren arm, schmutzig und ungebildet. Die Arbeiterbewegung wollte dieses Elend bekämpfen. Organisatorisch fußte sie auf drei Säulen: auf der Partei für politische Einflussnahme, auf den Gewerkschaften für Verbesserungen der Arbeitsbedingungen und auf den Selbsthilfevereinen. Dies waren zum Beispiel der Arbeiter-Samariter-Bund (Gesundheit), die Arbeiterwohlfahrt (Hilfe in Not) oder Bildungsvereine. Zur Selbsthilfe zählten auch etliche Hobbyvereine für Gesang, Tanz oder Sport, in denen Arbeiter und Arbeiterinnen ihre wenige Freizeit angenehm verbringen konnten.

Die Naturfreunde starteten als Arbeiterverein. Proletarierinnen, Proletariern und deren Familien sollte er erfüllende und gesunde Freizeitaktivität in Gemeinschaft ermöglichen. Die Gründer wollten den Zusammenhalt im Klassenkampf stärken und das politische Bewusstsein der Arbeiterschaft schärfen. Die Mitgliederwerbung richtete sich direkt an Arbeiter, wie hier bei einer sogenannten Landagitation der Naturfreundejugend Mittelrhein-Main in Dieburg bei Darmstadt, 1928. (Foto | NaturFreunde-Archiv)

Im Vergleich zur Arbeiterbewegung war die Lebensreform bunter und diffuser und sie verfolgte kein einheitliches Ziel. „Lebensreform“ ist daher nur ein grober Sammelbegriff für ganz unterschiedliche Ideen. Es ging darum, das Leben anders zu führen: natürlicher, ganzheitlicher. Nudisten, Naturheilkundler und Ernährungsgurus stemm­ten sich gegen die Entfremdung, die ihnen Industrialisierung und moderne Großstadt zumuteten. Landkommunen entstanden, Pädagogen kämpften für eine bessere Erziehung. Aus dieser Zeit stammen Anthroposophie, Pestalozzi- und Waldorfpädagogik, Vegetarismus, Rohkost, Kneippkur, FKK, Reformhäuser, das Revival der Homöopathie und vieles mehr. Von emanzipatorisch über reaktionär bis esoterisch war alles dabei.

Aus diesem Brunnen an Ideen hatten die Gründer der Naturfreunde geschöpft: der Sensenschmid Alois Rohrauer, der Jurist Karl Renner (später sozialdemokratischer Kanzler und Bundespräsident von Österreich) und der Volksschullehrer Georg Schmiedel. Dieser fasste seine Motive einmal so zusammen: „Wir wollen vor allem die Arbeiter losreißen von den Stätten des Alkohols, vom Würfel- und Kartenspiel. Wir wollen sie aus der Enge der Wohnungen, aus dem Dunst der Fabriken und Wirtshäuser hinausleiten in unsere herrliche Natur, sie der Schönheit und Freude entgegenzuführen.“

Es blieb nicht lange bei Sonntagsausflügen. Die Ortsgruppen bauten in Eigenarbeit Naturfreundehäuser oder Hütten und legten Wanderwege an. Naturfreundeläden für Ski-, Kletter- und Wanderausrüstung öffneten. 1905 gründeten sich auch außerhalb Österreichs die ersten Vereine: in Zürich und München. Andere Länder folgten, etwa Ungarn, die USA, Frankreich und die Niederlande. Deutschland war neben Österreich bald der wichtigste Landesverband der internationalen Bewegung. Die Naturfreunde hatten vor allem in Süddeutschland großen Zulauf.

Schon in der Anfangsphase zeigte sich das Dilemma des Vereins: die Spannung zwischen den linken Idealen und der harmlosen Freude am Hobby. Die Vereinsspitze wurde nicht müde, immer wieder die politischen und gesellschaftlichen Ansprüche der Bewegung zu betonen. Den meisten der hinzuströmenden Mitglieder war das aber herzlich egal: Sie suchten in erster Linie Erholung und Geselligkeit.

Ausschluss der Kommunisten

In den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg hatten viele Natur- und Wandervereine durchaus etwas Subversives: Bei den Wandervögeln etwa stromerten Bürgersöhne und -töchter frei und in lockeren Gruppen durch die Landschaft — damals reichlich unkonventionell und anrüchig.* Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg änderte sich das Bild. Jetzt sah man die Jugendlichen in Formation hinter hochgereckten Wimpeln marschieren. Natur- und Wandervereine wie etwa die Pfadfinder oder die Bündische Jugend schwärmten nun von Volk, Nation und Soldatentum. Zur Gemeinschaft trat jetzt die Volksgemeinschaft.

Die Naturfreunde hingegen blieben links davon. Aber wie links? Über diese Frage trugen sie in den 1920er-Jahren ihre eigenen politischen Kämpfe aus. Der linke Flügel der Naturfreunde hatte dem Verein auch vorher schon immer wieder vorgeworfen, das politisch-wirtschaftliche System eher zu stabilisieren als zu überwinden: Sonntags mache man Ausflüge, um ab Montag dann umso erholter ausgebeutet zu werden. Nach dem Ersten Weltkrieg verschärfte sich dieser Konflikt. Der Krieg hatte die Arbeiterbewegung gespalten in reformorientierte Sozialdemokraten und revolutionäre Kommunisten. Dieser Riss ging auch durch die Mitgliederschaft der Naturfreunde. Die Kommunisten im Verein bestanden immer vehementer auf politischer Mobilisierung. Die Ortsgruppen handhabten das sehr verschieden: In Potsdam bot der Verein etwa Schulungen in marxistisch-leninistischer Weltanschauung an, in Bielefeld wollte man lieber mehr über Pilze wissen.

1928 kam es zum Knall: Die genervte deutsche Vereinsspitze einigte sich darauf, die Kommunisten einfach rauszuschmeißen.

Während die Vereinsführung vor dem Krieg ihre Not gehabt hatte, die politischen Ziele überhaupt im Verein zu halten, kämpfte sie nun damit, nicht an den auseinanderlaufenden Zielen der Linken zu zerbrechen. Doch der Zwist war stärker. 1928 kam es zum Knall: Die genervte deutsche Vereinsspitze einigte sich darauf, die Kommunisten einfach rauszuschmeißen. 20.000 Mitglieder verließen die Naturfreunde, ganze Ortsgruppen traten aus. Die Naturfreunde banden sich von da an bis heute eng an die SPD.

Die selbst gebauten Naturfreundehäuser entwickelten sich schnell zum zentralen Bezugspunkt des gesamten Vereinslebens und zum Stolz der Mitglieder. Der Verein ist ohne seine Heime nicht denkbar: Viele Chroniken und Vereinsgeschichten lesen sich fast wie Häuserkataloge. Die Mitglieder der Naturfreunde — meist Arbeiter ohne großen Besitz — finanzierten das Baumaterial gemeinschaftlich, organisierten alles selbst und bauten die Häuser mit eigenen Händen. Dies alles rangen die Männer und Frauen ihrer raren Freizeit ab. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts galt für die Arbeiterschaft: Sechstagewoche, Schichten von oft mehr als acht Stunden, drei bis zwölf Tage Urlaubsanspruch im Jahr. Waren Vereinsheim und Garten fertig, wurden sie gemeinsam genutzt und gepflegt. Für die Arbeiter, die oft in schlechten Wohnungen zur Miete hausten, war das Naturfreundehaus die Erfüllung eines bis dahin unerreichbaren Wunsches: ein zusammen erarbeitetes und verwaltetes Gemeinschaftseigentum. Dies entsprach auch der gesellschaftlichen Idee des Kommunismus: gemeinsame Anstren- gung zum Wohle aller, ohne trennende Besitzverhältnisse. So gesehen ist der Häuserbau der Naturfreunde eine ganz konkret gewordene Utopie — ein Stück Klassenkampf, wie es auf der Hauptversammlung 1928 hieß. Bis 1933 entstanden auf dem Gebiet des Deutschen Reiches 220 Naturfreundehäuser, heute gibt es in Deutschland mehr als 400.

Jedes Naturfreundehaus, das neu entsteht, ist ein Stück Klassenkampf! – Hauptversammlung 1928

Feierliche Einweihung 1928. Den Bau hatten Mitglieder der Naturfreunde, der Arbeiterwohlfahrt, der Sozialdemokraten und der Kommunistischen Partei gemeinsam gestemmt — ein Hinweis auf die enge Verflechtung der verschiedenen Stränge der Arbeiterbewegung. Das Haus in Kirkel diente auch als Jugendherberge für Arbeiterjugendliche und als Schulungszentrum für die Naturfreunde und andere Organisationen. (Foto | Denkschrift zum sechzigjährigen Bestehen 1895-1955)

Alles verloren

Das Vereinslogo im Wandel der Zeit. (Foto | NaturFreunde-Archiv)

Wie reformorientiert oder revolutionär auch immer — links waren die Naturfreunde auf jeden Fall. Und damit wurden sie zum Ziel von Nazi-Schlägern: Immer wieder griffen SA-Leute einzelne Naturfreunde an oder randalierten in den Vereinshäusern. Als Adolf Hitler dann im Januar 1933 zum Kanzler ernannt wurde, ahnten die Naturfreunde, was ihnen drohte. Es galt zu retten, was zu retten war, und so trat die deutsche Landesgruppe sofort aus der internationalen Naturfreundebewegung aus, um ihren deutschen Charakter zu betonen. Die Vereinsspitze verfasste im März eilig eine Denkschrift mit dem Namen „Die Bedeutung der Naturfreundebewegung und der Naturfreundehäuser für Volk, Staat und Nation“. Darin lobte sie sich für ihren Kampf gegen die „kommunistische Zersetzungstätigkeit“ und die nimmermüden Versuche, „das schaffende deutsche Volk durch das Wandern körperlich, geistig und sittlich zu fördern, Liebe zu Natur und Heimat, Volk und Vaterland zu erwecken und dadurch der deutschen Volksgemeinschaft zu dienen“. Ein durchschaubarer und würdeloser Versuch, sich an die neuen Machthaber ranzuwanzen.

Genützt hat es nichts. 13 Tage später wurden führende Vereinsmitglieder abgeholt und ins Gefängnis gesteckt, der Verein wurde verboten und das Vermögen enteignet. SA-Hooligans schmissen Bücher, Lichtbildersammlungen und Schriften des Vereins ins Feuer. Sämtliche rund 300 Häuser und Hütten wurden beschlagnahmt und umfunktioniert, etwa zu SA-Heimen.

Die Naturfreunde mussten mit ansehen, wie Nazi-Lümmel ihre Häuser mit Hakenkreuzfahnen behängten und sich dort gemeinsam besoffen — in den Häusern, die sie gemeinschaftlich finanziert und in ihrer raren Freizeit selbst aufgebaut hatten. In Bielefeld zum Beispiel wurde das Vereinsheim per Schriftzug weithin sichtbar in „Adolf-Hitler-Haus“ umbenannt, um die Erbauer zu verhöhnen. Die Nazi-Regierung sperrte zahlreiche Vereinsfunktionäre zum Teil jahrelang in Lager und Zuchthäuser oder verurteilte sie zum Tode. Deutschlandweite Zahlen liegen nicht vor, aber lokale Zahlen geben einen Eindruck: Aus der Landesgruppe Württemberg beispielsweise landeten 239 Naturfreunde in Zellen, 16 wurden ermordet. Einige Naturfreunde trafen sich trotzdem heimlich weiter, aber daraus erwuchs kein bedeutsamer Widerstand. Ein Jahr später widerfuhr den österreichischen Naturfreunden dasselbe: Nach einem kurzen Bürgerkrieg, in dem die autoritäre Regierung das Heer gegen bewaffnete Sozialdemokraten einsetzte, errichtete Engelbert Dollfuß 1934 eine Diktatur. Getragen wurde das Regime von brutalisierten Konservativen und antimodernen katholischen Kirchenmännern. Es ging gegen alles vor, was nach Sozialismus roch.

Das Ende der Naturfreunde war das noch nicht. Aber es kam ihm sehr nahe: Nach dem Verbot in Deutschland und Österreich blieben von den 215.000 Mitgliedern der internationalen Bewegung nur noch 32.500 übrig. Die Führung übernahm nun der Schweizer Landesverband.

Wiederbeginn im Westen, Ende im Osten

Die Wiedergeburt nach dem Zweiten Weltkrieg verdankten die deutschen und österreichischen Naturfreunde dennoch diesem Rest. Die Schwestervereine in den USA, Frankreich, Großbritannien und der Schweiz erreichten bei den westlichen Besatzungsverwaltungen, dass dem Verein die enteigneten Häuser zurückgegeben wurden. Für das verlorene Barvermögen und andere Werte gab es jedoch nie eine Entschädigung. Schon 1945 gründeten sich die ersten Ortsgruppen.

Die Naturfreunde in der sowjetischen Besatzungszone hatten es da nicht so leicht. Die moskautreue Entourage von Walter Ulbricht hatte nicht vergessen, dass die Naturfreunde die Kommunisten 1928 einfach rausgeschmissen hatten. Außerdem bevorzugte die neue ostdeutsche Führung ohnehin einheitliche, staatliche Organisationen auf allen Gebieten.

Richard Schulz aus Potsdam, den die Nazis wegen Widerstands mehrfach eingebunkert hatten, beantragte 1948 die Erlaubnis, die Naturfreunde wiederzugründen. Die sowjetische Militäradministration lehnte ab und hatte ihn fortan auf dem Kieker. Die Sowjets durchsuchten sein Haus und fanden Bücher von Leo Trotzki, Stalins ermordetem Intimfeind. Schulz wurde ohne Gerichtsprozess in ein sowjetisches Zwangsarbeitslager verschleppt und dort sechs Jahre festgehalten. In der DDR gab es keine Naturfreunde mehr.

Greenpeace der 50er

In Westdeutschland allerdings bekam der Verein schnell wieder ordentlich Zulauf. Neue Häuser wurden errichtet. Impulse für politische Beteiligung kamen immer häufiger aus der Jugendorganisation des Vereins. Die Naturfreunde waren bei allen großen Protesten der 1950er dabei: bei den Friedensmärschen, der sogenannten Ohne-mich-Bewegung gegen Wiederbewaffnung und Wehrpflicht, den Protesten gegen Atomwaffen. Der größte Coup gelang ihnen 1957 mit einer koordinierten Besetzungsaktion der Knechtsände; das sind Sandbänke im Wattenmeer vor der Küste Bremens und Cuxhavens. Die britische Luftwaffe warf dort zu Übungszwecken immer wieder scharfe Sprengkörper und Brandbomben ab. Die Bundesregierung hatte den Briten ein paar Jahre zuvor dieses Gelände zur Verfügung gestellt und im Gegenzug die Insel Helgoland zurückerhalten. Die Knechtsände waren und sind aber eine wichtige Brutstätte verschiedener Vogelarten und Siedlungsraum von Seehunden. Die Naturfreunde führten den Protest gegen das Militärübungsgelände an.

Mit einer medienwirksamen Besetzungsaktion auf Sandbänken im Wattenmeer machen Naturfreunde aus Bremen und Cuxhaven 1957 auf die gefährdete Vogelbrutstätte aufmerksam. Die sogenannten Knechtsände wurden von der britischen Luftwaffe als Übungsplatz zum Bombenabwurf genutzt. (Foto | NaturFreunde-Archiv)

Am 8. September 1957, einem grauen Sonntagmorgen, machten sich rund 300 Protestler — Frauen und Männer — mit zwanzig bunt geschmückten Kuttern auf den Weg zu den Sandbänken. Greenpeacemäßig besetzten sie den Knechtsand einen Tag lang: Sie entrollten Banner mit ihren Forderungen, entfachten ein Feuer aus Treibholz und verlasen ihre Forderungen — all dies vor den Augen mitgereister Reporter der Wochenschau, von Agenturen und Presse. Für Bilder und Berichterstattung war also gesorgt. Als die Demonstranten durchnässt zurückkehrten, wurden entlang der Küste mehrere Freudenfeuer angezündet. Fackelträger empfingen sie im Hafen. Die Landesregierung Niedersachsen schlug sich auf die Seite der Protestler und rief nur einen Monat nach der Besetzungsaktion ohne Absprache mit Bonn oder London das Naturschutzgebiet „Vogelfreistätte Knechtsand“ aus. Im Februar 1958 verzichtete die britische Regierung offiziell auf den Knechtsand als Übungsgelände. Die sogenannte Vogelfreistätte erwies sich als Keimzelle des heutigen, streng geschützten Nationalparks Niedersächsisches Wattenmeer, des größten Naturschutzgebiets Deutschlands. Sieg auf ganzer Linie für die Naturfreunde!

Mit den 1960ern kündigte sich die Zeit von APO, sexueller Befreiung und Studentenprotesten an und die Naturfreundejugend machte politisches Kabarett, statt Bittbriefe an die Mächtigen zu verfassen, veranstaltete Rockkonzerte statt Volkstanz. Ebenfalls im Repertoire: Zeltlager für repressionsfreie Sexualpädagogik. Bemerkenswert waren handfeste Solidaritätsaktionen für die algerischen Rebellentruppen, die letztlich erfolgreich gegen die französische Kolonialherrschaft kämpften. Die Naturfreundejugend warb in Westdeutschland für die Sache der Algerier, schickte fleißig Pakete und Geld und schließlich sogar eine kleine Delegation, die von Marokko aus illegal die Grenze übertrat. Sie sammelten Informationen und zeigten Solidarität. Manche Naturfreunde-Burschen ließen sich allerdings auch dazu hinreißen, in den Ausbildungslagern kamerawirksam Krieg zu spielen und mit dem Gewehr in der Hand über Gräben zu hüpfen.

Das Öko-Frühwarnsystem

Die Naturfreunde behaupten bis heute stolz, das ökologische Frühwarnsystem der Sozialdemokratie zu sein. Und in der Tat waren sie unter den Ersten, die Umweltschutz als wichtiges politisches Thema setzten. Der Durchbruch hierfür war eine medienwirksame Großkundgebung im Höhenpark Killesberg in Stuttgart im Sommer 1961 anlässlich der Bundesgartenschau. Sie setzte unter dem Motto „Schutz dem Menschen — Schutz der Natur“ den Umweltschutz gleichrangig mit Frieden.

In den 1970er- und 1980er-Jahren beteiligten sich die Naturfreunde an den großen Demonstrationen gegen die militärische Aufrüstung der NATO, zum Beispiel hier in Hamburg 1984. (Foto | NaturFreunde-Archiv)

Mitten im Wirtschaftswundertaumel warnte der Zukunftsforscher Robert Jungk die fast 5.000 Teilnehmer mit einer Tonbandbotschaft: „Industrialisierung bedeutet heute leider häufig auch Zerstörung. (…) Ist es denn notwendig, dass unsere Flüsse vergiftet, dass unsere Luft verpestet wird? Ist es denn notwendig, dass unsere Wälder abgeholzt, unsere Wiesen zu Ödland verwandelt werden müssen? (…) Diese Liebe [zur Natur] fehlt den meisten Unternehmern, sie denken nur an Gewinn (…) und denken nicht daran, dass sie damit ihren Kindern und Kindeskindern etwas wegnehmen, das nicht zu ersetzen ist.“ Fortan und bis heute ist Umwelt- und später auch Klimaschutz das politische Hauptziel der Naturfreunde. Das zeigt sich ganz praktisch in Bachputzaktionen verschiedener Ortsgruppen, Aufforstungen oder Protesten gegen problematische Bauprojekte.

Politisch saßen die Naturfreunde in den 1970ern zwischen allen Stühlen: Ihre Vorreiterrolle in der Umwelt- und Antiatomkraftbewegung verloren sie an neue Gruppen wie etwa Greenpeace, WWF oder BUND (Friends of the Earth). Diese waren frisch und cool. Die braven Naturfreunde hingegen sangen immer noch ihre 100 Jahre alten Arbeiterlieder. Aber auch das enge Verhältnis zur regierenden SPD verkomplizierte sich. Denn die Partei bemaß Fortschritt immer noch in rauchenden Fabrikschloten, asphaltierten Kilometern, Beton und Motorbrummen. Die Naturfreunde galten in der SPD als die peinlichen Ökos. Der Verein hielt der Partei dennoch die Treue. Dass die Sozialdemokraten lange taub waren für die Argumente der ökologisch und wachstumskritisch Bewegten, ist sicher der Hauptgrund für die Entstehung einer zweiten linken Partei in Westdeutschland: der Grünen.

Bei allen großen gesellschaftlichen Themen seit den 1980ern waren die Naturfreunde nur noch einer von vielen: Sie beteiligten sich an Demos gegen Atomkraft, Pershing-Raketen, die Irakkriege, unfairen Handel und jüngst gegen die Handelsabkommen CETA und TTIP. Aber sie waren eben nur dabei. Ruhm und Medienpräsenz bekamen meist andere.

Zusammen mit 29 anderen Gruppen organisierten die Naturfreunde 2016 den Protest für gerechten Welthandel und gegen die Handelsverträge zwischen der EU, den USA und Kanada (TTIP und CETA). 200.000 bis 320.000 Menschen in insgesamt sieben Städten gingen am 17. September 2016 auf die Straße, hier in Berlin. (Foto | Ruben Neugebauer, CC BY-NC-SA 2.0, www.ttip-demo.de)

Nachhaltigkeit als Selbstfindung

Nach 1990 dehnten sich die Naturfreunde in den neuen Bundesländern schnell wieder aus und erreichten, dass ihnen auch dort die alten Häuser zurückgegeben wurden. Die über 400 Naturfreundehäuser in Deutschland stehen heute jedem offen, der eine günstige Unterkunft braucht. In den 1990ern wandelten sich die Naturfreunde immer stärker zum reinen Umwelt- und Klimaschutzverein mit angeschlossener Sportabteilung. Die Naturfreunde wollen den Gedanken der Nachhaltigkeit und des sanften Tourismus in die Gesellschaft tragen und nutzen dafür ihre gute Infrastruktur.

Die grüne Bewegung wird heute von anderen geführt.

Es scheint, als habe der Verein damit endlich eine Lösung für den Zwiespalt gefunden, den er schon seit der Gründung mit sich herumschleppt: Einerseits wollte er immer ein Hobbyverein sein, andererseits hatte er den Anspruch, weltanschaulich in die Gesellschaft zu wirken. Mit Umwelt, Klima und Nachhaltigkeit haben die Naturfreunde politische Themen gefunden, die sich leichter mit den tatsächlichen Aktivitäten des Vereins verbinden lassen. 2001 benannten sie sich folgerichtig offiziell um in „NaturFreunde Deutschland — Verband für Umweltschutz, sanften Tourismus, Sport und Kultur“. Der Verein hat heute in Deutschland rund 70.000 Mitglieder in 600 Ortsgruppen. Den demokratischen Sozialismus findet man nur noch in der Satzungspräambel.