IM RAUSCH DER OPTIONEN

Dank PC und Pkw, Internet und ICE sparen wir mehr Zeit denn je. Warum, verflixt noch eins, haben wir trotzdem ständig keine? Ein Fall für den Verein zur Verzögerung der Zeit um Vorstand Martin Liebmann.

Text: Karin Herczog

Organisation: Verein zur Verzögerung der Zeit


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Bevor wir über Ihren Verein reden: Was ist Zeit überhaupt?

Es gibt viele kluge Betrachtungen zur Zeit. Für mich ist sie die Dimension des Lebendigen: Der Raum wäre tot und starr ohne sie, erst die Zeit belebt ihn, weil in ihr Veränderungen stattfinden. Klingt einigermaßen schlau, oder?

Einstein als Erfinder der vierdimensionalen Raumzeit hätte es bestimmt gefallen …

Mir geht es aber weniger um Naturwissenschaft als um das Soziale. Die Betrachtung der Zeit ist ein Schlüssel, um alles Lebendige zu verstehen. Es geht um die Frage, wie wir mit Zeit umgehen.

Seit 2003 ist er Mitglied, seit 2014 Obmann des Vereins zur Verzögerung der Zeit: Martin Liebmann. (Foto: M. Liebmann)

Und wie gehen wir mit ihr um?

Zunehmend gestört. Die Beschleunigung erfasst alle Lebenswelten. Vor ein paar Hundert Jahren wurden alle Entscheidungen an der Religion ausgerichtet. Später am Staat. Und heute an der Ökonomie. Das halte ich für grob fahrlässig, weil es unser Leben und Zusammenleben schlechter macht.

Warum? Ist Zeit sparen nicht gut?

Natürlich ist es gut, dass man schnell von A nach B kommen und Produkte effizient herstellen kann. Aber es macht kaum Sinn zu sagen: Wow, gerade habe ich super effektiv meine Tochter getröstet. Oder: Da ist ein Konflikt und den löse ich mal schnell. Vieles, was man beschleunigen will, dauert umso länger. Soziale Beziehungen lassen sich ebenso wenig beschleunigen wie Jahreszeiten.

Was macht die ständige Beschleunigung mit uns?

Sie entfremdet — von mir selbst, von der Welt, von anderen Menschen, von der Natur und allem, mit dem wir in Beziehung stehen. Dabei kommt uns die Resonanz abhanden, dann spricht die Welt nicht mehr mit uns. Mit negativen Auswirkungen für Umwelt und Gesellschaft.

Braucht es deshalb Ihren Verein zur Verzögerung der Zeit?

Ja. Es geht darum, wie gutes Zusammenleben funktioniert. In unserer Satzung steht, dass wir dort, wo Beschleunigung und Hektik zu Scheinlösungen und partikulären Interessen führen, Innehalten und Reflexion fordern. Auslöser für die Gründung war ein Paradoxon. Nämlich die Frage, warum wir so viel Zeug erfinden, um uns das Leben zu erleichtern, und trotzdem immer weniger Zeit haben.

Und warum ist das so?

Jede neue Technik, jede Zeitersparnis, eröffnet unendlich viele neue Optionen. Weil das Leben aber endlich ist und wir nichts versäumen wollen, versuchen wir im Rausch der Optionen, mehr davon zu nutzen, als uns guttut. Statt zu fragen, was uns wirklich wichtig ist. Das Ergebnis ist ein gefülltes statt ein erfülltes Leben.

Warum denken wir, unsere Zeit ständig vollpacken zu müssen?

In unserer Kultur, vor allem im protestantischen Teil, ist tief verwurzelt, dass jegliches Tun ohne Schweiß und Tränen nichts wert ist. Uns wurde aus den Seelen und Herzen gehämmert, dass wir auch mal nichts tun dürfen — also der Muße frönen und die Zeit nutzen, um zu träumen, kreativ zu werden oder die grauen Zellen zu erholen. Klar kann es mich auch glücklich machen, wenn ich im Job etwas effizient erledigt habe. Aber ich will ja nicht immer nur nützlich sein. Musik machen zum Beispiel ist vielleicht nicht nützlich, aber schön. Alles hat eben seine Zeit und sein Tempo. Oft erkennen wir das erst, wenn wir älter sind.

Da kann man nur hoffen, dass man es nicht zu spät merkt.

Tatsächlich war der Umgang mit Zeit lange ein 50-plus-Thema. Das hat sich gewandelt: Wir haben zurzeit einen regen Zulauf von jüngeren Menschen.

Das heißt, ein gewisser Leidensdruck fängt heute früher an?

Absolut. Die Menschen sind ja nicht blöder, sie kriegen mit, was in der digitalisierten Welt geschieht, und fragen: Ist das wirklich das Leben, das ich führen will? Vielleicht haben sie noch keinen Burn-out. Aber das Gefühl, dass ihnen der Sinn abhandenkommt. Es geht um Balance und dabei oft um ganz Banales wie verlässliche Arbeitszeiten für ein vernünftiges Gehalt und Flexibilität für Kinder. Viele Firmen haben das erkannt und umwerben den Nachwuchs mit neuen Modellen.

 „Paradoxe Interventionen“ nennt der Zeitverein seine etwas anderen „Mitmach-Aktionen“. Sechs Beispiele:

 

 

Wie bringen Sie als Zeitexperten Ihre Zeitkompetenz unter die Leute?

Jedes Mitglied tut dies in seinem ureigenen Umfeld — ob in Bildung, Wirtschaft, Politik, Kultur oder Kunst. Insofern sind wir eine Art Querschnittsverein. Mein persönliches Steckenpferd sind „paradoxe Interventionen im öffentlichen Raum“. Dabei animieren wir Passanten zum Foto- und Handyfasten, verteilen Flaschenpost mit Gedichten — oder lassen Clowns an einem beschrankten Bahnübergang auftreten. Diese halten dann ein Plakat mit der Aufschrift „3 Minuten ärgern oder 3 Minuten lachen?“ hoch, verteilen rote Nasen und regen die Leute an, die kurze Auszeit als Geschenk zu betrachten. In der Art machen wir irre viel.

Warum empfinden wir gerade Warten als so unerträglich?

Alles eine Frage der Kultur und Perspektive. Ein Flughafen verlängerte deshalb sogar den Weg zwischen Ankunftsgate und Gepäckband. Dadurch war der Koffer meist vor den Leuten da, diese waren zufriedener mit dem Service. So schräg ticken wir.

Klingt doch echt nach einem Luxusproblem, oder?

Ja, für Zwangsentschleunigte wie Flüchtlinge oder Langzeitarbeitslose dürfte das Gerede von nötiger Zeitverzögerung in der Tat eher wie Hohn klingen.

Hat Sie die Zeit im Zeitverein verändert? Haben Sie seither mehr Zeit?

Ich nutze sie bewusster. Trotzdem werde auch ich mitunter hektisch, keiner ist perfekt. Eines meiner Lebensmottos heißt daher „fröhliches Scheitern“. Und natürlich können wir die Zeit nicht wirklich verzögern, nur uns selbst. Wo immer blinder Aktionismus ausbricht, zücke ich daher meine rote Zeitkarte, die ich immer bei mir trage. Oder sage im Zweifel mal „nein“.

Ein „Nein“ zur rechten Zeit — ist das die Lösung?

Ein wichtiger Teil davon. Ein „Nein“ ist ja nur die andere Seite des „Ja“ zu etwas, das mir wichtig(er) ist. Entscheide ich mich dafür, komme ich in Resonanz und bin glücklich. Am Strand von Rügen habe ich dazu die passende Entschleunigungsformel gefunden. Nach ihr ist es unter dem Strich egal, ob wir von einer unendlichen Zahl Optionen eine oder 1.000 nutzen. Wir versäumen so oder so fast alles. Also was soll’s! 

Danke für Ihre Zeit,
Herr Liebmann!

 

 

DER ZEITVEREIN

 

GRÜNDUNG:

1990 durch Peter Heintel, Philosoph und Gründungsrektor der Uni Klagenfurt. Martin Liebmann ist seit 2003 Mitglied, seit 2014 Obmann.

VEREINSFORM:

Basis ist das österreichische Vereinsrecht. Danach gilt ein Verein als gemeinnützig, der es in die Satzung schreibt. In Deutschland dagegen ist der Zeitverein nicht als gemeinnützig anerkannt. Er finanziert sich aber ohnehin vor allem über Mitgliedsbeiträge und kaum über Spenden.

PROGRAMM:

Jährliches Symposium („Zeitgespräche“), wissenschaftliche Publikationen, Mitgliederzeitschrift „Zeitpresse“, individuelle Zeitkulturinitiativen wie die paradoxen Interventionen.

MITGLIEDERZAHL:

Gut 700, vor allem in Österreich, Deutschland, der Schweiz, aber auch in Schweden, Italien, Großbritannien, Spanien, Südamerika. Tendenz steigend — auch durch jüngere Mitglieder.

WER KANN MITGLIED WERDEN?

Jeder. Für alle, die auf keinen Fall jemals einem Verein beitreten möchten, bei den Zeitverzögerern aber unbedingt dabei sein wollen, gibt es sogar eine „eingetragene Nichtmitgliedschaft“.

(Nicht-)Mitgliedserklärungen auf www.zeitverein.com