Die Ritter in der Zeitkapsel

Was tut der Stuttgarter Stammgast, wenn seine Kneipe dichtmacht? Er übernimmt sie selbst — und gründet dafür einen Verein.

Text: Steffen Beck

Text: Christoph Kalscheuer

Organisation: Tafelrunde des Ritters e.V.


Vorheriger Artikel Nächster Artikel Überblick

Die alteingesessenen Heslacher wussten es gleich: Wenn die „Kerle“ das machen, kann das ja nur schiefgehen! Heslach ist ein Stadtteil im Süden Stuttgarts. Ein­geborene wie Zugezogene behaupten gerne, man lebe dort wie in einem Dorf. Jeder kennt jeden, Neuigkeiten ver­breiten sich mit den Tauben durch die Gassen. Die „Kerle“, das sind die Stamm­gäste der Eckkneipe „Ritterstüble“ — und in den Augen der Nachbarn echte Gärtnerböcke. Denn als der damalige Wirt 2009 aufhört, be­schließen sie auf der Abschiedsfeier, den Laden selbst zu übernehmen. Und weil niemand alleine die Verantwortung übernehmen will, gründen sie einen Verein: die Tafelrunde des Ritters. „Wir waren damals eigentlich nur egoistisch“, gesteht Axel Littig. „Wir wollten unsere Kneipe für uns erhalten.“ Littig ist heute Geschäftsführer, Koch und Vereinsvorsitzender. „Wenn mir früher einer gesagt hätte, dass ich mal in einem Verein aktiv sein würde, hätte ich ihm den Vogel gezeigt.“

„Wenn mir früher einer gesagt hätte, dass ich mal in einem Verein aktiv sein würde, hätte ich ihm den Vogel gezeigt.“

Axel Littig, Geschäftsführer, Koch und Vereinsvorsitzender

Heslach ist nicht gerade arm an Eck­kneipen. Etablissements mit so klingenden Namen wie Max & Moritz III, Dafni’s Bistro Pub oder Pub Karlsmühle bei Alex liegen nicht mal fünf Minuten Fußweg entfernt. Wieso also unbedingt das Ritter? Um diese Frage zu beantworten, muss man in die Achtzigerjahre zurückreisen, als der 16-jährige Littig sich schon mit seinen Kumpels an der Theke des Ritters traf. „Ich bin so aufgewachsen: Brettspiele spielen, ein Bier dazu trinken und erfahren, was so los ist.“ Diese Tradition, die er und seine Freunde pflegen, reicht indes noch weiter zurück: Immerhin öffnete der Laden in den Räumen einer ehemaligen Metzgerei in der Ritterstraße bereits in den 1960ern. Ab und an wurde renoviert, doch der ursprüngliche Charme mit blanken Holztischen blieb erhalten — und selbstverständlich wird hier noch geraucht. Die heute mittelalten Stamm­gäste haben so in ihrer Zeitkapsel eine Kultur bewahrt, die es ihrer Meinung nach nirgendwo anders mehr gibt.

Und in der Tat ist die Atmosphäre in der Stube eigentümlich gelassen: ehrlich, geradeheraus, unkompliziert, skurril, freundlich. An den leicht vergilbten Wänden hängen Jagd­trophäen — Gänsekopf neben Rehgeweih —, auf dem Weg zur Toilette das unvermeidliche Che-Plakat, am großen Spiegel ein „Kein Bier für Nazis“-Aufkleber. Chichi sucht man hier ebenso vergebens wie die klassischen, an den Barhockern festgewachsenen Abstürzler. „Das Ritterstüble gibt’s nur einmal“, schwärmt Tilman Fezer, ebenfalls Stammgast, Mitbetreiber und — man geht halt doch ein bisschen mit der Zeit — Social-Media-Verantwortlicher. „Die Leute, die hierherkommen, wollen einfach gemütlich ihr Bier trinken und sich nett unterhalten.“ Das wollten die Retter des Ritters unbedingt erhalten.

Was in der Bierlaune niemand ahnte: Aus dem Spaß wird schnell Ernst. Zunächst läuft der Laden im Testbetrieb. Die Vereinsmitglieder wechseln sich hinter der Theke ab, organisieren den Einkauf und Veranstaltungen wie Live­musik. Alles ehrenamtlich. Einen Mitgliedsbeitrag gibt es nicht. Das fehlende Startkapital ersetzen sie durch einen Plus-Deckel. Anstatt anschreiben zu können, zahlt man einen Betrag, den man nach und nach vertrinkt. Was keiner erwartet hat: Der Laden brummt.

Nach einem halben Jahr wird klar: Kneipenwirt und normales Berufsleben lassen sich nicht so gut vereinbaren.

Doch schon nach einem halben Jahr wird klar, dass sich Kneipenwirt und normales Berufsleben als Anwalt, Prüftechniker, Versicherungsmakler oder Mechaniker nicht so gut vereinbaren lassen. Also übernehmen Gründungsmitglied Littig und Fezer hauptberuflich das Lokal. 2010 hat das Ritter bereits drei Festangestellte und vier Aushilfen. „Das ist schon lange kein Hobby mehr, sondern ein ganz normaler gastronomischer Betrieb, der schauen muss, dass er sich trägt und die Löhne erwirtschaftet“, sagt Littig, der sich über die Jahre auch Richtung Küche orientiert hat, dort gutbürgerliche Klassiker kocht und inzwischen obendrein die Buchhaltung macht.

2010 führt die Tafelrunde des Ritters einen Mitgliedsbeitrag von 36 Euro pro Jahr ein. Obwohl das eher moderat ist — zum Geburtstag gibt’s für Mitglieder drei Freigetränke und samstags können sie die Lokalität ohne Grundgebühr anmieten — trennt sich da die Spreu vom Weizen, wie Fezer es nennt. Nur eine kleine Delle: Aktuell gibt es 135 Mitglieder. Doch obwohl sich der Betrieb trägt, kommt er ohne deren Beiträge nicht aus. „Es geht immer irgendwas kaputt, Möbel müssen angeschafft werden“, erklärt Fezer. „Und 2019 planen wir ein großes Straßenfest zum Zehnjährigen.“

Da dürfte es voll werden, denn die alteingesessenen Heslacher haben die Kerle inzwischen akzeptiert. Seit sie mit Erfolg die Heslacher Hocketse — das traditionsreiche Sommerfest auf dem zentralen Bihlplatz — organisieren und das Ritterstüble zum im Dorfleben unverzichtbaren „Kommunikationsbetrieb mit begleitenden Speisen“ entwickelt haben, sind alle Zweifel verflogen. Mit einem Lächeln betont Littig: „Wir sind heute vollwertige Mitglieder der Gesellschaft.“