„Jedes Sterben ist anders“

Gesine Walz begleitet in ihrer Freizeit sterbende Menschen. Dabei erfährt sie mehr über das Leben als über den Tod. Eine Begegnung.

Text: Julia Stolte

Fotografie: Philipp Reinhard

Institution: Hospiz St. Martin


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„Ich fände es gut, wenn der Tod noch mehr ins Leben kommt“, sagt Gesine Walz fröhlich. „Heute ist das zum Glück nicht mehr so ein großes Tabu, aber doch immer noch etwas, über das viele nicht so gerne sprechen.“ Dem Tod und dem Sterben gibt Gesine Walz seit sechs Jahren viel Raum in ihrem Leben. Sie engagiert sich ehrenamtlich in der ambulanten Sterbebegleitung. Das bedeutet, sie verbringt ihre Freizeit mit Menschen, die bald sterben werden. Besucht sie zu Hause, in ihrer Pflegeeinrichtung oder im Stuttgarter Hospiz St. Martin, für das sie das Ehrenamt ausübt.

Raum für Leben und Lachen

Gesine Walz ist auf dem Weg zu den Hospizzimmern im ersten Stockwerk. Die Räume sind hell und wirken durch Holzelemente warm und gemütlich. Überall stehen Blumensträuße, die Frühlingssonne wirft durch Mobiles bunte Muster an die Wand und es duftet nach frischem Kaffee. „Viele denken bei Hospiz an Finsternis und dunkle Gänge. So ist das aber nicht“, sagt sie, während sie die Treppe nach oben geht. „Natürlich gibt es da Traurigkeit, aber es ist auch ein Ort des Lebens und es wird gelacht. Die Atmosphäre ist zum Wohlfühlen und auch wir Ehrenamtlichen sind gerne auf der Station“, sagt Gesine Walz.

Im offenen Gemeinschaftsbereich steht ein großer, rechteckiger Tisch. Dort können die Patienten — oder Gäste, wie sie hier genannt werden — und ihre Angehörigen gemeinsam essen und sich austauschen. Oder mit dem Aufzug einen Stock höher fahren und auf der großen Dachterrasse Zeit verbringen. Bänke, Stühle und Tische aus Holz sind dort zu kleinen Sitzgruppen arrangiert. Dazwischen warten Blumenbeete auf die erste Bepflanzung des Jahres. Gesine Walz setzt sich auf eine der Bänke und blinzelt in die Sonne. Ihre Sommersprossen verleihen ihr etwas Jugendliches. Sie trägt kein Make-up. Kleine Fältchen um die Augen verraten, dass sie gerne lacht. Gesine Walz ist Fachanwältin für Medizinrecht. Mit ihrer festen Stimme und ihrer strukturierten Art zu reden kann man sie sich gut im Gerichtssaal vorstellen.

Aber wie kommt man dazu, Menschen in der letzten Phase ihres Lebens zu begleiten?

„2005 erkrankte meine gleichaltrige Freundin an einem Tumor und ich begleitete sie eineinhalb Jahre, bis zu ihrem Tod. Das machte ich damals einfach als Freundin, ohne viel darüber zu wissen. Ich beschäftigte mich dann intensiver mit dem Thema Sterbebegleitung und fragte mich, was ich hätte besser machen können. Über eine Anzeige wurde ich 2010 auf einen Infoabend über die ehrenamtliche Sterbebegleitung im Hospiz St. Martin aufmerksam.

Anfangs war ich skeptisch. Ich bin nicht gläubig und kam zu dem Infoabend mit der Frage, ob ich dann überhaupt für dieses katholische Hospiz als Sterbebegleiterin arbeiten kann. Doch das geht gut. Das Haus ist explizit offen für Menschen aller Glaubensrichtungen und auch für Menschen, die nicht gläubig sind. Der Tod betrifft alle, ob religiös oder nicht. Hier wird einem nichts übergestülpt. Stattdessen sind die Verantwortlichen bemüht, für jeden Patienten den passenden Begleiter zu finden. Das ist sehr wichtig, damit sich alle wohlfühlen. Wenn es einem Sterbenden beispielsweise viel bedeutet, gemeinsam zu beten, dann bin ich nicht die richtige Begleitung.“ Sie lacht.

„Es ist wichtig, dem Menschen respektvoll und mit Offenheit entgegenzutreten.“

Ein Dreivierteljahr lang bereitete sie sich 2011 auf ihren Einsatz vor, rund 100 Stunden immer abends und am Wochenende. Dabei ging es um allgemeine Informationen zur Hospizarbeit, um die Auseinandersetzung mit dem Tod und der eigenen Sterblichkeit — und um die Fähigkeiten, die eine gute Begleitung möglich machen. Sie hospitierte in einem Pflegeheim, bei einem ambulanten Pflegedienst und auf der Station im Hospiz. Die Zeit sei auch für sie persönlich wertvoll gewesen und ging über die reine Vorbereitung auf die Aufgabe hinaus.

Kann man sich darauf überhaupt vorbereiten? Und welche Fähigkeiten sind wichtig?

„Nicht im gewöhnlichen Sinne. Das ist ja auch keine Ausbildung und man ist nie damit fertig. Das Wichtigste, was man lernt, ist, immer offen in die Situation zu gehen. Dem Menschen respektvoll und mit Offenheit entgegenzutreten und einfach zu schauen, was er in dem Moment braucht. An diese Maxime halte ich mich bei jeder Begleitung. Anfangs stelle ich mich immer kurz vor und versuche dann, etwas von dem Patienten zu erfahren.“

Ist das denn immer möglich?

„Wenn Menschen gar nicht mehr sprechen können oder wollen, dann ist das auch ein bisschen ein Herantasten. Man setzt sich mal dazu und versucht zu spüren, was demjenigen guttun könnte. Manche reagieren sehr gut auf Handhalten oder auf kleine Berührungen. Aber es gibt natürlich auch Personen, die das nicht möchten. Viele beruhigt es schon, wenn einfach jemand da ist in der letzten Phase. Ich bin da allerdings immer vorsichtig mit so Verallgemeinerungen wie ‚Keiner will allein sein am Ende‘. Ich möchte da nicht für alle sprechen. Aber wir versuchen einfach, das zu geben, was hilft und gewünscht wird, und vor allem Ruhe auszustrahlen. Dabei ist jede Begleitung anders, so wie eben jeder Mensch anders ist.“

Wie viele Menschen haben Sie begleitet?

„Ich habe extra nachgezählt, es waren 46 Menschen.“

Erinnern Sie sich an alle?

„Ja, an jeden einzelnen. Einige Begleitungen sind mir noch besonders lebendig in Erinnerung. Wie mein Besuch bei einer Frau, die kurz vor dem Sterben war. Sie lag zu Hause inmitten ihres Wohnzimmers in ihrem Bett. Es waren viele Leute da, als ich kam: ihre Familie und sogar ein Hund. Auf mich wirkte es, als ob sie ganz friedlich in einem umtosten Zimmer liegt. Ich hatte das Gefühl, das hat ihr gefallen. Sie wollte vielleicht auch wirklich bis zum Schluss Leben um sich haben und den Alltag spüren. Den Eindruck habe ich öfter.

Als ich einmal einen Gast im Hospiz fragte, ob ihn das offene Fenster wegen des Verkehrslärms stört, meinte er, dass ihn das beruhige und Stille für ihn unangenehm sei. Von außen betrachtet habe ich manchmal aber auch den Eindruck, dass gar nicht wenige den eigentlichen Zeitpunkt des Sterbens dann gerne für sich haben möchten. Es kommt doch relativ häufig vor, dass jemand verstirbt, wenn er oder sie gerade kurz alleine ist. Selbst wenn eigentlich sonst rund um die Uhr jemand da ist.“

Zeit für einen Plausch zwischen Ehrenamtlichen und Hauptamtlichen ist immer.

Über was unterhalten Sie sich mit den Sterbenden?

Das ist ganz unterschiedlich. Die Gesprächsthemen reichen von aktuellen Ereignissen wie dem Geburtstag oder der Einschulung der Enkel bis zur Erinnerung an längst vergangene Erlebnisse. Manchmal kommt es auch zu fast philosophischen Gesprächen. Ich habe eine ältere Dame hier auf der Station begleitet. Sie war zwischen Leben und Tod. Ich saß an ihrem Bett und als sie aufwachte, war sie sich nicht sicher, wo sie ist und ob sie noch lebt. Und sie fragte mich ganz vorsichtig: ‚Bin ich jetzt tot?‘ Und ich sagte: ‚Nein, Sie sind am Leben.‘ Woraufhin sie mich fragte: ‚Woher wissen Sie das?‘ Damit habe ich mich noch recht lange beschäftigt.“ Sie lacht wieder.

Aber wie geht man damit um, dass man immer wieder einen Menschen verliert, zu dem man eine persönliche Bindung aufgebaut hat? Wie geht das mit dem vielfachen Loslassen?

„Je besser man jemanden kennengelernt hat, umso mehr ist es natürlich auch für einen selber ein Abschied. Aber wenn ich als Ehrenamtliche zu einem Menschen komme, den ich noch nicht kenne, dann ist das anders als für einen Angehörigen, das muss man klar sagen. Wir sind in einer anderen Rolle und wir erleben ihn so, wie er in diesem Moment ist. Im Gegensatz zu jemandem, der ihn viel länger kennt, habe ich nicht den Vergleich, wie er früher war. Ich weiß nicht, was man noch mit ihm unternehmen konnte oder wie er aussah. Das erleichtert es auch ein Stück weit. Es fehlt die gemeinsame Geschichte, die es manchmal so schwierig macht, ihn gehen zu lassen.

Unsere Aufgabe ist mit der Begleitung als Angehöriger nicht zu vergleichen. Da hat man ja auch eine ganz andere Trauer in sich. Darum kommt es vor, dass ein sterbender Mensch manches leichter gegenüber jemandem sagen kann, der ihm nicht so vertraut ist. Mit unerledigten Dingen, Sorgen oder dem letzten Wunsch möchten viele ihre Angehörigen nicht zusätzlich belasten. Auch das ist eine Rolle, die wir dann gerne mit übernehmen. Schwieriger als das Sterben ist ja eigentlich die Zeit davor, wo man noch Ängste hat und vielleicht eine Unruhe spürt.“

Die Kerze brennt immer, wenn einer der Gäste im Hospiz gestorben ist. Sie ist von der Straße aus zu sehen und ist für viele Passanten bereits ein vertrautes Symbol.

Zuhören statt antworten

Kurz vor dem Tod haben viele Patienten Angst und viele äußern ihre Sorgen eher versteckt und nicht direkt. In der letzten Phase komme es auch nicht mehr darauf an, wissenschaftlich korrekte Antworten zu geben. „Wir versuchen einfach, auf die Ängste und Nöte einzugehen und den Sterbenden zu ermuntern, darüber zu sprechen, wenn er das gerade möchte. Er soll wissen, dass er sich frei äußern kann. Es gibt keine falschen Fragen und nichts, was man nicht besprechen könnte.“

„Schwieriger als das Sterben ist ja eigentlich die Zeit davor, wo man noch Ängste hat.“

Diese Begegnungen belasten sie nicht. Ins Privatleben nehme sie gedanklich nicht übermäßig viel mit. „Sonst wäre das auch nicht die richtige Aufgabe für mich.“ Beim Sport sowie mit ihrem Mann und ihren Katzen findet Gesine Walz den nötigen Ausgleich zur Arbeit und zum Ehrenamt. Zudem gibt es regelmäßig Fallbesprechungen mit anderen Ehrenamtlichen im Hospiz. Schwieriger könne es eher einmal sein, nach einem stressigen Arbeitstag mit der nötigen Ruhe ins Hospiz zu kommen. „Wenn ich direkt aus dem Büro komme, ist es wichtig, dass ich mir, bevor ich zum Patienten gehe, kurz nochmals klarmache, dass die Arbeit jetzt abgemeldet ist. Man darf nicht mit den Gedanken im Büro ein, das geht nicht. Für mich ist es wichtig, dass ich selbst nicht hektisch bin und die nötige Ruhe habe, um mich auf den anderen einzustellen.“

Hat sich Ihre Einstellung zum Tod durch Ihr Ehrenamt verändert?

„Nicht substanziell. Ich hatte davor auch nie Furcht empfunden. Aber natürlich ist das Thema dadurch näher gerückt und fassbarer geworden. Ich empfinde das als positiv. Man bekommt einen normaleren Umgang damit. Der Tod gehört zum Leben. Auch wenn das vielleicht manchmal schwierig zu akzeptieren ist. So ging mir das bei der Begleitung einer jungen Mutter, die an Krebs erkrankte und ihre letzten Lebenstage im Hospiz verbrachte. Ich sehe das so: Ich kann das Unausweichliche nicht ändern, aber ich kann die Situation verbessern. Das ist das Schöne daran. Ich habe das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun. Und wenn die Situation dann nun mal so ist, dann schauen wir, dass wir sie so gut gestalten wie möglich.“

Das Ehrenamt

Ehrenamtliche in der ambulanten Sterbebegleitung verbringen Zeit mit Menschen in der letzten Phase ihres Lebens. Sie besuchen sie zu Hause, in ihrer Pflegeeinrichtung, im Krankenhaus oder im Hospiz. Sind die Patienten noch mobil, unternehmen sie auch Ausflüge mit ihnen oder helfen ihnen bei Erledigungen. Ist das nicht mehr möglich, spielen und sprechen die Sterbebegleiter mit ihnen, lesen vor oder sitzen auch einfach nur an ihrer Seite und versuchen, Ruhe zu geben. Ehrenamtliche übernehmen keine pflegerischen Aufgaben und verabreichen keine Medikamente. Sie ergänzen die hauptamtlich tätigen Pflegekräfte und Ärzte und entlasten die Angehörigen. Das Ehrenamt kann über ambulante Hospizdienste ausgeübt werden, die in unterschiedlicher Trägerschaft sind.

Das Hospiz

Das Stuttgarter Hospiz St. Martin feiert 2017 sein zehnjähriges Bestehen. In dem stationären Hospiz mit acht Zimmern und in der ambulanten Sterbebegleitung sind rund 40 Ehrenamtliche tätig. Auch Trauerbegleitung und ein ambulanter Kinder- und Jugendhospizdienst sind hier beheimatet. Träger ist das katholische Stadtdekanat Stuttgart. Das Haus ist offen für Patienten und Ehrenamtliche aller Nationalitäten und Glaubensrichtungen sowie für Menschen, die nicht gläubig sind.