Die Zivil­gesellschaft ­braucht ein Update

Damit sie mit dem Rest der Welt mithalten kann, muss die Zivilgesellschaft digitaler werden. Unser Autor sieht allerdings noch deutlichen Nachholbedarf. Ein Kommentar.

Text: Anton Tsuji


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Digitalisierung ist megageil, findest du nicht auch? Ich liebe sie, sie hat mein Leben besser gemacht. Echt jetzt. Seit Jahren vergesse ich (fast) keine Geburtstage und Verabredungen mehr, weil mein Smartphone mich erinnert. Netflix und Spotify haben meinen Medienhorizont erweitert und, sehr zur Freude meiner Familie, mein Wohnzimmerregal entschlackt. Auch beruflich brenne ich für die Digitalisierung. Wenn ich nicht gerade für Magazine schreibe, pumpe ich Einsen und Nullen in die Industrie.

Das macht Spaß, weil ich nicht irgendwas arbeite, sondern die Welt ein Stückchen besser mache. Sprich: Ich will eher mehr als weniger Digitalisierung in meinem Leben. Die ganze Zettelwirtschaft rund um Amtsgänge etwa kotzt mich richtig an. Und der heimische Papierkorb quillt über mit Elternbriefen, deren Informationen in einer Mail allein aus Nachhaltigkeitsgründen doch besser aufgehoben wären als auf totem Baum. Oder Arztgänge! Impfbücher, Rezepte, sowas verlege ich gerne mal. Dir fallen bestimmt auch noch viele Beispiele ein, mit denen unser Leben durch digitale Lösungen besser laufen könnte.

OMG, ist der naiv

Okay, okay, ich weiß, was du jetzt sagen willst. Es gibt ja noch die Sache mit den Daten oder, besser gesagt, deren Missbrauch. Ich kann dir aber entgegnen: Ich bin mir dieser Sache bewusst, schließlich läuft auf Netflix ja auch „Black Mirror“. Dass jemand böse Dinge mit meinen Daten tun könnte, bedeutet für mich aber nicht im Umkehrschluss, dass Digitalisierung doof ist. Diese Tatsache zeigt einfach nur: Es sollte uns allen daran gelegen sein, dass gut mit Daten umgegangen wird. Die Digitalisierung braucht ein Korrektiv – so wie jede andere gesellschaftliche Entwicklung auch.

Die Wirtschaft wird das nicht leisten. Muss sie ja auch nicht. Unternehmen haben das gute Recht auf Gewinnmaximierung hinzuarbeiten – persönlich freue ich mich aber natürlich über jedes ethisch saubere Unternehmen. Immerhin: An geltendes Recht müssen sich alle halten. Der Staat könnte also das zweite Korrektiv sein. Wer jetzt aber die Debatte um das Leistungsschutzrecht verfolgt hat, der weiß: Die Politik ist zu träge, um mit der Wirtschaft Schritt zu halten – und sie ist ihr auch teilweise zu hörig. Ganz davon abgesehen, dass die Interessen der gewählten Regierungen eventuell von deinen eigenen abweichen könnten, lieber engagierter Leser.

Wir Bürgerinnen und Bürger brauchen jemanden, der die digitale Transformation in unserem Sinne mitgestaltet. Wirtschaft und Politik verfolgen hierfür zu viele Eigeninteressen. Deswegen muss die Zivilgesellschaft ihre Verantwortung wahrnehmen.

Wir brauchen also jemanden, der Politik (und möglichst auch die Wirtschaft) in unserem Sinne kontrolliert. Da bleibt für mich nur eine Kandidatin übrig: die Zivilgesellschaft. Menschen, die sich ohne Profitgier und Machtstreben dafür einsetzen, dass die Digitalisierung in nutzbringenden und ethischen Bahnen verläuft. Ergibt Sinn, oder? Einen Haken gibt’s aber leider: Die Zivilgesellschaft hinkt in allen digitalen Belangen krass hinterher.

Gefangen in der Betaversion

Zu spüren bekommen habe ich das etwa Anfang 2019. Die EVAU war Medienpartner des Digital Social Summit, auf dem sich verschiedene zivile Player zu Diskussionen und Workshops rund ums Thema trafen. Ein wirklich tolles Event mit vielen inspirierenden Menschen. Wenn es aber um das große Ganze ging, dann spürte ich immer einige Dilemmata.

Zum Beispiel beim Eröffnungspanel. Es nahmen hochrangige Stiftungsvertreter und Männern aus Ministerien teil. Und ja, es herrschte große Einigkeit. Die Digitalisierung berge große Chancen für die Zivilgesellschaft, wenn sie richtig genutzt werde. Sag ich ja! Nur was dafür zu tun sei, damit sich dieser Nutzen entfalte, das wusste irgendwie niemand. Sätze fingen an mit „Man müsste…“ und mäanderten dann irgendwohin, nur nicht ins Konkrete. Irgendwer müsse die Initiative ergreifen. Man müsse mehr reden. Eine echte Marschrichtung wurde zumindest mir nicht klar.

Nun gut, dachte ich mir, diese Runde war vielleicht eher eine Art Aufsichtsrat der Zivilgesellschaft. Vielleicht muss der Drive eher von der Basis kommen. Deswegen setzte ich mich in die Sessions, in denen Macherinnen und Macher ihre Lösungen präsentierten. Hier wurde mir allerdings erst das Ausmaß der Misere bewusst. Die Probleme der Zivilgesellschaft fangen nicht nur dort an, wo NGOs und staatlich geförderte Institutionen ihre Kräfte zusammenschließen müssten. Nein, schon auf der Umsetzungsebene hapert’s.

Nehmen wir doch die Session, in der es darum ging, die ländliche Region Höxter digital zu vernetzen. Teil der Lösung war – wie sollte es anders sein – eine App! Darin finden sich eine Art Gelbe Seiten für Höxter (vom nächsten Hausarzt bis hin zum lokalen Schachtreff), redaktionelle Inhalte (Reisetipps und Co.) sowie die Möglichkeit zum Informationsaustausch der Bürgerinnen und Bürger (stell dir eine Art Schwarzes Brett vor). Ohne den Macherinnen und Machern zu nahe treten zu wollen: Diese App ist eher so … naja.

Die Zivilgesellschaft muss digital nachsitzen. Der durchschnittliche Wissensstand ist zu gering, viele Engagierte verrennen sich in kleinen Problemstellungen, anstatt am großen Rad zu drehen. Liebe Engagierte, redet miteinander!

Die Benutzerführung wirkte recht fummelig, die Texte hatten was von „Trendziel Griechenland. Jetzt Ihre Kreuzfahrt im Reisebüro Müller buchen“. Marketing auf Amtsblatt-Niveau statt dem heißesten Scheiß aus Höxter. Aber: Laut der Vortragenden wird von den Bewohnern Höxters diese App genutzt. Und ich glaube ihr das auch. Das lag aber eher an der Vortragenden, die unglaublich engagiert wirkte.

Wahrscheinlich trommelte sie viel für die App und überzeugte die Leute davon, sie auf ihr Smartphone zu schmeißen. Eigentlich ja schön, dass persönliches Engagement selbst eine mittelgute Lösung an die Frau und an den Mann bringen kann. Aber leider auch ganz schön verschwendete Power.

Auf der Insel gestrandet

Also, meine These: Die App-Menschen wollten eher Geld verdienen, als die bestmögliche Lösung zu entwickeln, und die Auftraggeber hatten leider zu wenig Ahnung. So weit, so schlecht. Aber schauen wir doch in andere Regionen. Nicht nur Höxter hat eine App. Ein kurzer Ausflug auf Google verrät mir: Brandis in Sachsen hat ebenfalls eine, genauso wie Villingen-Schwenningen im Schwarzwald. Und noch viele, viele Gemeinden und Städte mehr. Das ist Kacke, weil das allesamt Insellösungen sind. Dasselbe Problem wird also mit öffentlichen Mitteln deutschlandweit jedes Mal neu angegangen. Niemand schaut mal nach links oder rechts, was die anderen gebrauchen könnten.

Wie geil wäre es denn, einmal alle Bedarfe festzustellen und EINE Lösung herbeizuführen? Wenn ein Zusammenschluss der Gemeinden diese eine „App to rule them all“ gebaut hätte, die nur einmal Geld kostet, die aber alle benutzen könnten? Stattdessen gibt es einfach viele kleine Entscheiderrunden mit ihren eigenen Fördertöpfen. Gefundenes Fressen für App-Entwickler, die mit einer geschliffenen PowerPoint-Präsentation ihre Sachen verkaufen können.

Tja, wenn es doch nur die Gemeinde-App wäre, bei der die Entscheider mit Scheuklappen herumlaufen. Leider kann ich an dieser Stelle den Kreis zu den Daten schließen. Institutionen und NGOs sind nicht besser als Landkreise. Für alle Themen von Mitgliedergewinnung bis Datenschutz produzieren sie fröhlich Insellösungen – und verlieren dabei aus den Augen, den Diskurs rund um die Digitalisierung selbst mitzugestalten, anstatt sich mittreiben zu lassen.

Hände unterm Arsch hervor und tut euch zusammen

Das muss sich ändern! Denn ich will eine starke Zivilgesellschaft, die vertraut ist mit Digitalthemen und auf Basis dieser Vertrautheit Lobbyarbeit betreibt. Eine Zivilgesellschaft, die mit einer vereinten Stimme auftritt, um Politik und Wirtschaft dazu zu zwingen, vernünftig mit Daten umzugehen. Dazu müsst ihr, liebe Engagierte, vor allem eines tun: aufhören, nur die eigenen Probleme zu lösen. Denn egal, ob ihr Freiwilligenagentur seid, Musikverein oder Fußballclub, ihr steht alle in der Verantwortung. Allein aus Eigennutz, denn ihr werdet morgen nur funktionieren, wenn ihr heute lernt, digital zu denken. Aber eben auch für das große Ganze.

Also: Wenn euch ein Problem begegnet, fragt euch, wer es noch haben könnte, und tut euch mit denen zusammen. Wenn ihr ein soziales Start-up seid und eine coole Lösung entwickelt habt, versucht Brücken zu schlagen und eher Verbände abzuholen, als kleine Vereine. Auch wenn mit den Kleinen der schnelle Umsatz winkt, nehmt eure Verantwortung ernst. Ey, und wer weiß, vielleicht seid ihr dann ja das Spotify der Engagementszene? Und dann löst ihr bei Menschen diese Begeisterung aus, wie ich sie für Digitalisierung spüre. Das wäre absolut großartig.