Die deutsche Gedächtnis­lücke

Der rechtsextreme Terrorismus der 1980er Jahre ist heute fast vergessen. Warum eigentlich? Sieben Denkansätze.

Autor: Florian Burkhardt

Archivfoto: picture alliance / Istvan Bajzat
Illustration: Ulrike Obenhuber

Organisation: Politische Terrorgruppen

Oktoberfest­attentat 1980

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Zwischen 1979 und 1982 erlebte West-Deutschland eine beispielslose Häufung rechtsextremen Terrors: Sprengstoffanschläge, Brandsätze, Autobomben, gezielte Morde. Allein im schlimmsten Jahr 1980 ermordeten Neonazis 18 Menschen, 213 Menschen erlitten zum Teil sehr schwere Verletzungen.

Die Terrorvereinigungen dieser Jahre hießen zum Beispiel Deutsche Aktionsgruppen, Hepp-Kexel-Gruppe, Kommando Omega. Doch ihre Namen und Taten sind heute aus dem Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit fast verschwunden.

Ganz im Gegensatz hierzu der Terrorismus der linksradikalen Roten Armee Fraktion (RAF). Besonders der sogenannte deutsche Herbst 1977 mit zehn Toten, der Geiselnahme Hanns-Martin Schleyers und der Entführung eines deutschen Flugzeuges durch palästinensische Terroristen.

Warum ist der RAF-Terror so präsent? Warum ist der Neonazi-Terror fast vergessen?

Über die RAF gibt es 34 Spielfilme und mehrere Theaterstücke. RAF-Bücher füllen Bibliotheksregale, stellen quasi ein eigenes Genre dar. Ist mal wieder ein Jubiläumsjahr wie etwa 2017, entkommt niemand den zahlreichen Beiträgen in Presse, Radio und Fernsehen. Bei Gedenkveranstaltungen spricht der Bundestagspräsident.

Warum dieser Unterschied im kollektiven Gedächtnis? Was ist anders?

1. Drama

In unserer Infografik stellen wir die komplexe Struktur des Rechtsterrors der früher 1980ern dar. Lade dir hier das PDF herunter.

Das Drama um Schleyer und die Flugzeug-Entführung war genau das: ein Drama. Die TV-Zuschauer verfolgten über Tage gebannt das reale Schauspiel, wie skrupellose Terrorbanden die deutsche Funktionselite herausforderten. Politiker wie Kanzler Helmut Schmidt verzweifelten schier an ihrer Verantwortung, blieben letzten Endes aber standhaft. Schleyer: das resignierende Opfer. Die Entführer: vom idealistischen Weg abgekommene Desperados. Die inhaftierten RAF-Mitglieder bangen um ihre Freilassung und sterben am Ende der Geschichte.

Für die Mordanschläge der Neonazis bietet sich schlicht keine Dramaturgie an, mit der man die Geschichte leicht erzählen könnte: Menschen töten andere Menschen aus Hass. Mehr nicht. Die Taten bleiben scheinbar einzelne Ereignispunkte. Ein einfaches, verbindendes Narrativ gibt es auf den ersten Blick nicht.

2. Bilder

Kennt fast jeder: Andreas Baader, Terrorist der RAF; Brandstiftung, Gefängnisausbruch, Bankraub, Einbruch, Diebstahl, vier Sprengstoffanschläge mit insgesamt vier Toten und über 70 Verletzten.

Fahndungsplakate mit schwarz-weißen Passfotos, die „Landshut“ auf dem Flughafen Mogadischu, Baader und Ensslin feixend im Gerichtssaal, Baader mit Loch im Kopf in seiner Zelle, das auf Haut und Knochen abgemagerte RAF-Mitglied Holger Meins im Hungerstreik, der entführte Hanns-Martin Schleyer vor dem RAF-Logo und mit Pappschild in den Händen und natürlich das Logo selbst: roter Stern mit MP 5.

Der Terrorismus der RAF sorgte für viele starke Bilder. Die Protagonisten legten es darauf an, solche bleibenden Bilder zu produzieren und sie setzten sie selbst gezielt für ihre Propaganda ein. Auch die Medien – immer auf Drama aus (siehe oben) – setzten alles daran, sprechende Bilder zu schaffen.

Die Neonazis hingegen schafften nie eine durchdachte Öffentlichkeitsarbeit, die in den Massenmedien verfangen konnte – obwohl auch sie immer vom nationalen Aufstand schwärmten. Es gibt nur sehr wenige Bilder von Neonazi-Attentaten; eigentlich nur die Bilder vom Tatort der Oktoberfestbombe 1980, das Studentenausweisfoto des Bombenlegers Gundolf Köhler und Bilder des Chefs der Wehrsportgruppe Hoffmann. Die Hintergründe des Attentats wurden nie wirklich aufgeklärt. Darum verbinden diese Bilder sich nicht mit einer schlüssigen Geschichte. 

3. Opfer

Die ausgewählten Ziele des RAF-Terrors sind beinahe alle prominent und mächtig: Generalbundesanwalt, Vorstandssprecher der Dresdner Bank und der Deutschen Bank, Arbeitgeberpräsident. Das bedeutet: Die Opfer sind schon vor der Tat einer breiteren Öffentlichkeit bekannt, was den Terrortaten mehr Aufmerksamkeit verschafft. Und: Die Opfer sind Mitglieder der staatlich-wirtschaftlichen Funktionselite, die sich zurecht angegriffen fühlt.

Diese Funktionselite hat die Macht und das Eigeninteresse, für eine aufwändige Verfolgung der Terroristen zu sorgen (Stichwort: Rasterfahndung). Und sie hat die kommunikativen Mittel, die Bedrohung – also ihre eigene – in der allgemeinen Aufmerksamkeit zu halten. 

Die vom RAF-Terror bedrohte Personengruppe ist einflussreich und kann sich wehren. Die Opfer der Nazis hingegen sind machtlos.

Die Opfer des Neonazi-Terrors hingegen sind fast alle zufällig und bleiben praktisch namenlos. Die Angehörigen und überlebenden Opfer kämpfen oft vergeblich um Anerkennung und Hilfe. 1977 fand der „Deutsche Herbst“ statt, dem Namen nach ein Ereignis nationaler Tragweite – die Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) hingegen nannte man anfangs bloß die „Döner-Morde“.

4. Ideologie

Linksradikaler Terrorismus stellt sich immer in einen großen politischen Kontext: Befreiung von Unterdrückung, Kampf gegen den Kapitalismus und für die Revolution. Wer als linksradikaler Terrorist die Menschheit befreien will, muss zwangsläufig erklären, warum ein Mordanschlag dafür ein geeignetes Mittel sein soll. Darum arbeiten sie mit Bekennerschreiben, die die Taten in den Gesamtzusammenhang einordnen und begründen sollen. Dieser Gang an die Öffentlichkeit erleichtert die Debatte über das Phänomen: Man hat einfach etwas, womit man sich auseinandersetzen kann.

Kennt fast keiner: Gundolf Köhler, Neonazi-Terrorist; Bombenleger beim Oktoberfestattentat 1980 mit 13 Toten und 211 Verletzten, davon 68 schwer.

Rechtsextremer Terrorismus jedoch kommt ohne wortreiche ideologische Begründung aus. Die Tat ist die Botschaft. Wer Juden oder Ausländer hasst, muss einen Mord an einem Juden oder Ausländer nicht begründen. Typisch für rechtsextremen Terror gibt es auch in den 1980er Jahren keine Bekennerschreiben, keine Forderungen, keine Erklärungen. Rechter Terror steht für sich selbst.

Die Gewalttat ist nicht Mittel der Ideologie, wie bei linksradikalem Terrorismus. Die Gewalttat ist der reine Ausdruck der Ideologie. Selbst das viertelstündige, sogenannte Bekennervideo des NSU kommt ganz ohne Rechtfertigung aus. Diese kommunikative Lücke erschwert die mediale Auseinandersetzung mit den Taten.

5. Politik

Die etablierten Politiker aller westeuropäischen Länder haben den linksradikalen Terrorismus stets benutzt, um Bürgerrechtsbewegungen, Gewerkschaften und linke Parteien zu diskreditieren. Der Kalte Krieg lieferte die Folie für die Interpretation: Linksradikaler Terrorismus steht auf der Seite des Feindes, der Sowjetunion und des Bolschewismus. Damit bedrohen die linksradikalen Terrorakte scheinbar die gesamte Republik und Gesellschaft.

Etablierte Politiker haben so die Möglichkeit, sich als Garanten von Sicherheit und Freiheit zu gerieren, während sie linke gesellschaftliche Bewegungen und Parteien als verdächtig darstellen können. Oder zumindest als zu lasch in puncto Sicherheit.

Aus der Bekämpfung rechtsextremen Terrorismus’ lässt sich kein derartiger politischer Gewinn ziehen. Über die Jahrzehnte hinweg fällt auf, dass rechtsextreme Gewalttaten von konservativen Politikern immer wieder systematisch verharmlost werden. Das liegt auch daran, dass es – zum Beispiel im Falle der CSU in Bayern in den 1980er Jahren – zahlreiche Verbindungen zu rechtsextremen Kreisen gibt.

Neonazi-Terror wird seit Jahrzehnten systematisch verharmlost

Die Union aus CDU/CSU sieht es mit gewissem Recht als ihr Verdienst an, dass sich jahrzehntelang keine Partei rechts von ihr etablieren konnte. Das bedeutet jedoch auch, dass die Union auf Wähler mit nationalistischem und rechtsextremem Weltbild Rücksicht nehmen will.    

6. Geheimdienst

Natürlich hat der Verfassungsschutz auch immer wieder versucht, in die linksradikale Szene zu kommen und dabei Erfolge gehabt. Doch ist das nicht vergleichbar mit der Durchsetzung und Unterwanderung der Neonazi-Szene mit Geheimdienstlern. In zahlreichen Fällen konnte nachgewiesen werden, dass V-Männer mit viel öffentlichem Geld rechtsextreme Gruppen aufbauten und leiteten, bis hin zur Neonazi-Partei NPD.

Sowohl beim Oktoberfestattentat als auch bei der Entdeckung des NSU hintertrieben und manipulierten staatliche Stellen die Aufklärung, vor allem der Verfassungsschutz. Warum sie das taten, ist unklar: Wollten sie eine eigene Tatbeteiligung verschleiern, von eigenen Fehlern und Fehleinschätzungen ablenken oder vielleicht einfach nur ihr V-Mann-Netz schützen?

Die Verwicklung staatlicher Behörden in rechtsextremen Terror ist zwar offensichtlich, aber Umstände, Motive und Hintergründe bleiben fast immer unaufgeklärt. Auch diese Gegebenheit erschwert eine stringente Erinnerung. 

Linksterror: Die Szene ist mitverantwortlich. Rechtsterror: Isolierte Einzeltäter.

7. Täter

Die Täter der RAF suchten die Öffentlichkeit, die rechtsextremen Terroristen mieden sie. Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof wussten sich in Wort und Bild darzustellen. Baader – der Draufgänger mit Sonnenbrille und Lederjacke. Ensslin – die radikale Frau der Tat. Meinhof – die Intellektuelle mit Weltschmerz.

Rechtsextreme dagegen wirken oft verschroben und altbacken, wie etwa der Chef der Wehrsportgruppe Hoffmann Karl-Heinz Hoffmann oder der Führer der Deutschen Aktionsgruppen Manfred Roeder. Oder einfach nur dumm und brutal wie Uwe Böhnhardt vom NSU.

Bei linksradikaler Gewalt wird immer wieder ihre Einbettung in eine Szene problematisiert. Über Terrortaten von rechts redet man oft völlig anders: Hier dominieren bis heute die Erzählungen von wirren Einzeltätern und isolierten Terrorzellen. Die ideologischen Hintergründe der Taten und das Ausmaß organisierter neonazistischer Gewalt gerät damit aus dem Blickfeld.