SCHWERE GEBURT

Ruth Hofmeister ist Hebamme und möchte einfach nur ihre Arbeit machen. Doch die Krankenkassen legen ihr Steine in den Weg und die Politik tut nichts dagegen. Gemeinsam mit dem Deutschen Hebammenverband e. V. wehrt sie sich.

Text: Julia Stolte

Fotografie: Toby Binder

Verein: Deutscher Hebammenverband e.V.


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Tränen steigen Ruth Hofmeister bei ihrer Arbeit immer mal wieder in die Augen. Etwa, wenn ein Kind nach einer intensiven Geburt zur Welt kommt. Ein Erlebnis, das sie nach wie vor berührt — auch wenn es für sie mittlerweile zum Berufsalltag gehört. Ruth ist freiberufliche Hebamme und arbeitet im Geburtshaus in Stuttgart-Mitte. 100 Geburten hat sie hier und bei Hausgeburten in den letzten zehn Jahren als erste Hebamme begleitet, 77 weitere als zweite. Hinter den Zahlen stehen Geschichten und die 32-Jährige ist ein Teil davon. „Für mich ist das Zauberhafte, dass ich als Hebamme sehr nah an diesem ursprünglichen Leben dran bin“, sagt sie. „Da gibt es natürlich nicht nur diese sonnigen, schönen Momente, wenn das Kind da ist. Das ist immer auch eine Berg-und-Tal-Fahrt mit all den Extremen, die das Leben eben ausmachen.“ Bei diesen Höhen und Tiefen begleitet Ruth die werdenden Mütter und ihre Familien. Anders als ihre angestellten Kolleginnen in den Kliniken tut sie das nicht nur während der Geburt, sondern übernimmt auch die Vorsorge in der Schwangerschaft und betreut die Frauen in der Zeit nach der Geburt im Wochenbett. „Es passiert oft, dass eine Mutter heulend dasitzt und sagt, das habe ich mir so aber gar nicht vorgestellt“, erzählt sie. Ruth ist dann für sie da, steht ihr medizinisch und psychologisch zur Seite.

GEBURT UND KRANKHEIT

Dieser Koffer ist immer gepackt: Neben einer mobilen Waage für die Neugeborenen hat Ruth für Hausgeburten auch Spritzen, Medikamente und Infusionen im Gepäck.

Ruth ist eine zierliche Frau, mit braunen Haaren und kurzem Pagenschnitt. Zum Gespräch trägt sie eine graue Strumpfhose und einen Jeansrock. Wir sitzen im Geburtshaus, das seit 2004 unter Trägerschaft des Vereins Storchenbiss e. V. existiert. Begleitet von einem Team aus zehn Hebammen kommen hier jedes Jahr rund 90 Kinder zur Welt. Das Ziel: eine natürliche Geburt, aus eigener Kraft, in ruhiger Umgebung, ohne medizinische Routinemaßnahmen und im eigenen Tempo.

Bett, Geburtswanne, ein kleines Sofa. Die Wände sind in warmem Orange gestrichen. Ruth hat eine Kerze angezündet. Wohlfühlatmosphäre. Während sie immer wieder an ihrem Tee nippt, erzählt sie mit fester, klarer Stimme: „Eigentlich wollte ich Krankenschwester werden, um Menschen in schwierigen Phasen beistehen zu können.“ Ihre Mutter sei davon wenig begeistert gewesen und habe ihr den Hebammenberuf nahegelegt. „Ich fand es spannend, dass es ein Beruf im Gesundheitswesen ist, der aber nicht nur die Krankheit im Blick hat. Ich mag das Medizinische. Aber viel wichtiger ist mir eigentlich der Begleitungsaspekt“, sagt sie und erklärt, was genau sie darunter versteht: „Ich wünsche mir, dass Frauen in ihrer eigenen Kraft gebären können und autonom in ihren Entscheidungen handeln dürfen. Mir ist wichtig, dass sie die Schwangerschaft und die Zeit des Elternwerdens so erleben dürfen, dass es gut für sie ist. Das klappt am besten, wenn sie dabei würdig und kompetent begleitet werden. Und ich wünsche mir, dass ich als Hebamme diese Arbeit tun kann — mit Freude, Empathie, der nötigen Zeit und einer angemessenen Entlohnung.“ Hohe Ansprüche, denen Ruth immer schwerer gerecht werden kann.

„Das Berufsethos kollidiert mit dem deutschen Gesundheitssystem.“

SYSTEM VERSUS ETHOS

Denn ihr Berufsethos kollidiert mit dem deutschen Gesundheitssystem, das gerade für die nichtmedizinische Seite wenig Raum lässt. Kostenpauschalen für bestimmte Vor- und Nachsorgeleistungen drängen Ruth und ihre Kolleginnen in ein System, das auf Effizienz getrimmt ist. Ein System, in dem der Wille und die Bedürfnisse der gebärenden Frau und ihrer Familie höchstens noch am Rande vorkommen. Für Ruth, die für ihren Beruf brennt, ist das schwer zu ertragen.

KAMPF FÜR DEN FREIEN WILLEN

Nach Momenten gefragt, die sie in den vergangenen Jahren besonders berührt haben, fällt ihr als Erstes gar keine Geburtsgeschichte ein: „Es gibt immer wieder berufspolitische Situationen, die mich aufwühlen.“ 2015 war so ein Moment. Hebammenverbände und der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen (GKV) verhandelten einen neuen Rahmenvertrag für die Vergütung von Hebammenleistungen. Die Kassenvertreter pochten darauf, neue Kriterien aufzunehmen, die Hausgeburten unter bestimmten Umständen schlicht ausschließen. Eine Idee: Ist der errechnete Geburtstermin um drei Tage überschritten, müsse ein Arzt durch eine Untersuchung bestätigen, dass alles in Ordnung und eine außerklinische Geburt damit möglich ist.

Nach der Geburt ist Putzen angesagt: Für die Reinigung der Räume im Geburtshaus sind die Hebammen ebenfalls zuständig.

Die Hebammenverbände lehnten den Vorschlag ab. Sie kritisierten, dass die Frau damit in der freien Wahl des Geburtsorts eingeschränkt werde. Außerdem sahen sie darin einen Einschnitt in das Berufsrecht der Hebammen. Die vom GKV angerufene Schiedsstelle entschied schließlich zugunsten der Kassen. Gegen den Beschluss reichte der Deutsche Hebammenverband beim Berliner Sozialgericht Klage ein und ließ die Ausschlusskriterien von Sachverständigen des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen und von der Gesellschaft für Qualität in der außer – klinischen Geburtshilfe e. V. (QUAG) prüfen. Die konnten keine Beweise für eine Wirksamkeit dieser sogenannten Ausschlusskriterien finden.

Ruth fühlt sich in ihrer Sicht bestätigt: „Eine Geburt gelingt dann am besten, wenn der Wille der Frau berücksichtigt wird. Das zeigen auch Vergleiche mit anderen Ländern. Die von den Kassen geforderten Ausschlusskriterien lassen das aber völlig außer Acht. Mich hat das damals sehr getroffen, dass jemand, dessen Zuständigkeit es gar nicht ist und der in meinen Augen auch keine medizinische Kompetenz hat, mir vorschreibt, was ich zu tun und zu lassen habe.“

GEHÖR VERSCHAFFEN

Ruth spricht immer schneller. Man spürt, wie wütend sie das auch zwei Jahre danach noch macht. Doch sie ist nicht der Typ, der einfach nur meckert. Stattdessen ist sie im Deutschen Hebammenverband e. V. selbst politisch aktiv. Der Verein kämpft für eine selbstständige Geburt, für eine gerechte Bezahlung der Hebammen, für eine erträgliche Arbeitssituation und gegen die Regulierungsversuche von Krankenkassen und Politik. Als Sprecherin für den Kreis Stuttgart organisiert Ruth im Landesverband regelmäßige Treffen, auf denen sie sich vor Ort mit ihren Kolleginnen austauscht, und ist auch bundesweit auf berufspolitischen Veranstaltungen unterwegs. Um auf den Hebammenmangel aufmerksam zu machen, verteilte sie mit Stuttgarter Hebammen vor dem Rathaus Kondome mit der Aufschrift „Schütz dich vor Hebammenmangel!“. Mit einer Postkartenaktion rückten sie außerdem Stuttgarts Oberbürgermeister Fritz Kuhn auf die Pelle. Mit Erfolg: Die Stadt zahlt mittlerweile Zuschüsse an Hausgeburtshebammen. Missstände und Themen gibt es aber noch genügend.

Übungspüppchen mit Filzplazenta

Welche das sind? „Die hohen Haftpflichtbeiträge!“, sagt Ruth. 7.639 Euro kostet es sie dieses Jahr, ihre Arbeit zu versichern — und die Beiträge steigen jährlich. 2007 lag der Beitragssatz für freiberufliche Hebammen mit Geburtshilfe noch bei 1.587 Euro. Als Grund für die dramatische Steigerung nennt der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft, dass die Aufwendungen für schwere und schwerste Geburtsschäden gestiegen sind, zwischen 2003 und 2012 um jährlich etwa sieben Prozent auf durchschnittlich 2,6 Millionen Euro. Dass Kinder und ihre Familien im Ernstfall abgesichert sind, ist auch Ruth wichtig. Sie weist aber darauf hin, dass zwar die Beitragssätze kräftig steigen, ihre abrechenbaren Kostenpauschalen aber kaum. Jede freiberuflich arbeitende Hebamme muss eine Berufshaftplicht abschließen, der Beitragssatz variiert je nach Tätigkeitsfeld. Hebammen, die keine Geburtshilfe anbieten, zahlen weniger. „Allerdings variieren auch die Kostenpauschalen stark. Gerade in der Wochenbettbetreuung sind sie sehr niedrig“, gibt Ruth zu bedenken. Immerhin 449,90 Euro brutto bekomme sie für eine Geburt, die sie im Geburtshaus betreut, und die kann auch mal 20 Stunden dauern. Für einen Wochenbettbesuch gibt es aber gerade mal 32,87 Euro brutto — egal wie lange sie bei der Frau ist. Zwischen 45 und 60 Minuten sind das in der Regel, schneller gehe es kaum, sagt sie. In dieser Zeit untersucht sie das Neugeborene, gibt Tipps bei Koliken, hilft bei Stillproblemen und ist auch da, wenn es der jungen Mutter gerade einfach nur zum Heulen ist.

EIN SPAGAT, DER KRAFT KOSTET

Das Ziel aller Hebammen ist solcherlei Familienfreude. Dafür werden ihnen einige Steine in den Weg gelegt.

Ruth und ihre Kolleginnen setzt das unter einen wirtschaftlichen Druck. Sie wollen die Frauen angemessen betreuen, laufen dabei aber immer Gefahr, selbst finanziell auf der Strecke zu bleiben: „Je mehr Zeit ich mir für die einzelne Frau nehme, desto ineffizienter bin ich.“ Bei der Wochenbettbetreuung sei das besonders krass. „Zieht man von den 32,87 Euro alle Kosten ab, bleiben am Ende vielleicht sieben Euro. Wenn ich da noch ein Knöllchen bekomme, habe ich Minus gemacht“, sagt sie und lacht bitter über ihren Verdienst, der in diesem Fall deutlich unter dem Mindestlohn von 8,84 pro Stunde liegt.

Vor allem für die Hebammen in der Wochenbettbetreuung sei es ein großer Kampf, qualitativ gut zu arbeiten und am Ende noch davon leben zu können. Viele zerreibt das und sie hören auf. Zwischen 2011 und 2016 ist die Zahl der festangestellten Hebammen in Krankenhäusern zwar um 800 auf etwa 9.300 angestiegen, drei Viertel von ihnen arbeiten allerdings in Teilzeit — ebenso wie viele der 13.000 freiberuflichen Hebammen. Die Zahl der Geburten stieg im gleichen Zeitraum von 662.685 auf 792.131 pro Jahr. „Statistisch gesehen arbeiten Hebammen gerade einmal vier bis fünf Jahre in ihrem Beruf“, sagt Ruth. „Viele Klinikhebammen reiben sich total auf. Nicht selten müssen sie bis zu fünf Frauen gleichzeitig betreuen. Sie leiden darunter, so keine gute Arbeit machen zu können, und haben Angst, dass ihnen durch den großen Zeitdruck Fehler unterlaufen. Irgendwann sind sie ausgebrannt und hören auf.“ Und außerhalb der Kliniken rechnet sich die flächendeckende Betreuung für freiberufliche Hebammen nicht, da die hohen Kosten die geringen Einnahmen auffressen. Das Ergebnis lässt sich auf der Aktionswebsite des deutschen Hebammenverbands www.unsere-hebammen.de besichtigen: Dort haben aktuell 18.600 Frauen angegeben, keine Hebamme zu finden. Der Großteil davon fehlt für die Wochenbettbetreuung.

„Für die Wochenbettbetreuung gibt es effektiv weniger als den Mindestlohn.“

Ein Trend mit gravierenden Folgen: Immer weniger Frauen haben die Möglichkeit, ihr Kind zu Hause zur Welt zu bringen. In der Klinik werden sie im Zweifelsfall ebenfalls abgewiesen. Während 1991 noch 1.186 Krankenhäuser Entbindungen vornahmen, waren es 1996 nur noch 690. Und weiteren Kreißsälen droht die Schließung, weil Hebammen fehlen oder sich die Geburtshilfe finanziell nicht mehr rechnet. Und nach der Geburt? Muss bei Stillproblemen im Zweifel YouTube als Ratgeber genügen, weil es nicht genügend Hebammen für die Wochenbettbetreuung gibt.

WERTSCHÄTZUNG? FEHLANZEIGE!

Allerdings können Ruth und ihre Kolleginnen auch immer wieder Teil erfolge für sich verbuchen. Seit Juli 2016 gibt es den sogenannten Sicherstellungszuschlag. Das heißt, die Kassen erstatten einen Teil der bezahlten Haftpflichtversicherungsprämie. Je nach Beitragssatz und diversen Abzügen sind das für Ruth bis zu 5.547 Euro im Jahr. Die restlichen 2.048 Euro muss sie weiter selbst bezahlen. „Das ist natürlich eine gute Sache“, sagt sie. „Allerdings gilt das nur für Hebammen, die in der Geburtshilfe tätig sind. Wochenbetthebammen haben nichts davon und hätten es bitter nötig.“ Sie selbst muss dafür erst einmal in Vorleistung gehen. Nach einem halben Jahr kann sie dann die Teilerstattung beantragen. Und: Die finanzielle Entlastung bezahlt sie mit einem deutlich gestiegenen Verwaltungsaufwand, denn sie muss Anträge ausfüllen und Nachweise erbringen.

Der Tag endet mit Schreibkram und Verwaltungsarbeit.

Viel Arbeit macht auch ein nachweisbares Qualitätsmanagement nach DIN ISO 9001:2015, zu dem jede Hebamme verpflichtet ist. „Diese Norm ist eigentlich für Unternehmen gemacht und nicht für Einzelkämpferinnen wie uns“, erklärt Ruth. Vor allem älteren Kolleginnen, denen der Umgang mit dem PC schwerfällt, sei es kaum möglich, dies richtig und einigermaßen effizient umzusetzen. „Das ist aufwendig und aufreibend und frustriert viele Hebammen sehr“, sagt Ruth. Besonders ärgert sie aber, was sie häufig bei Veranstaltungen oder Projekten mit Ärzten und Kliniken erlebt: „Da kommt immer wieder die Frage, ob wir Hebammen gut arbeiten, ob wir gut genug kontrolliert sind und ob man nicht noch mehr regulieren könnte. Das finde ich wahnsinnig ermüdend und beleidigend. Es gibt ein Hebammengesetz und eine Berufsordnung, da steht drin, was wir dürfen und was nicht. Alle Nachweis- und Fortbildungspflichten sind dort ebenfalls geregelt. Es muss kein Mensch in diesem Land noch irgendetwas an uns herumregulieren. Wertschätzung ist ein wichtiger Antrieb und es ist schade, dass dies von Politik und Kassen so missachtet wird.“

DIE ANGST IM NACKEN

Die Antwort, ob sie auch mal ans Aufhören gedacht hat, kommt schnell: „Ja! Vor mir liegen potenziell noch 30 Jahre Arbeit und ich glaube nicht, dass ich mein Berufsleben als Hebamme abschließen kann — obwohl ich den Beruf schön finde und ihn gerne länger machen würde. Aber ich fürchte, dass ich über die vielen Steine, die uns in den Weg gelegt werden, irgendwann nicht mehr rüberkomme. Ich finde es natürlich auch beängstigend, dass ich vielleicht mal verklagt werde und dann in Privatinsolvenz gehe. Das betrifft ja dann auch meinen Mann und meine Kinder“, gibt Ruth zu bedenken. „Ich wollte immer einen Beruf, der mir Spaß macht und mit dem ich nicht nur irgendwie Geld verdiene. Ich muss dabei auch nicht reich werden. Aber ich möchte doch bitteschön davon leben können — ohne Angst und mit einer sicheren Perspektive für die Zukunft.“